Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH Urteil vom 11. Juni 2021 – V ZR 234/19) hat am 11.06.2021 in einem Nachbarrechtsstreit zur Thematik überhängender Äste entschieden, dass ein Grundstücksnachbar von seinem Selbsthilferecht gemäß § 910 BGB auch dann durch Abschneiden selbiger Gebrauch machen darf, wenn dadurch das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht. Eingeschränkt ist der Grundstücksnachbar allerdings stets durch naturschutzrechtliche Beschränkungen wie örtlich geltende Baumschutzsatzungen oder -verordnungen.
Vorliegend steht auf dem Grundstück der Kläger unmittelbar an der gemeinsamen Grenze seit rund 40 Jahren eine inzwischen etwa 15 Meter hohe Schwarzkiefer, deren Äste, von denen Nadeln und Zapfen herabfallen, seit mindestens 20 Jahren auf das Grundstück des Beklagten hinüber ragen. Nachdem der Beklagte die Kläger erfolglos dazu aufgefordert hatte, die Äste der Kiefer zurückzuschneiden, entfernte er sie selbst. Mit der Klage verlangen die Kläger von dem Beklagten, es künftig zu unterlassen, von der Kiefer oberhalb von fünf Meter überhängende Zweige abzuschneiden, da das Abschneiden der Äste die Standsicherheit des Baums gefährde. Die Klage endete in den Vorinstanzen am AG Pankow/Weißensee und LG Berlin (Urteil vom 9. September 2019 – 51 S 17/18) erfolgreich. Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Begründung des Berufungsgerichts, die Kläger müssten das Abschneiden der Zweige nicht nach § 910 BGB dulden, weil diese Vorschrift nur unmittelbar von den überhängenden Ästen ausgehende Beeinträchtigungen erfasse, nicht aber mittelbaren Folgen, wie den Abfall von Nadeln und Zapfen, ist bereits durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14. Juni 2019 (V ZR 102/18) überholt. Schon aus diesem Grunde war das Berufungsurteil aufzuheben. Daher ist nun darüber Beweis zu erheben, ob die Nutzung des Grundstücks des Beklagten durch den Überhang beeinträchtigt wird und ob naturschutzrechtliche Regelungen, etwa Baumschutzsatzungen oder -verordnungen im konkreten Fall einem Eingriff in die Substanz des Baumes entgegenstehen. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Entfernung des Überhangs durch den Beklagten für die Kläger auch dann nicht unzumutbar, wenn dadurch das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.
Zur Begründung führt der BGH aus, dass das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB nach der Vorstellung des Gesetzgebers einfach und allgemein verständlich ausgestaltet sein sollte. Es unterliegt daher insbesondere keiner Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung. Die Verantwortung dafür, dass Äste und Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen, liegt wiederum bei dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Baum steht. Er ist im Rahmen der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung seines Grundstücks gehalten, dafür Sorge zu tragen, dass von dem Baum keine Beeinträchtigungen ausgehen. Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach und lässt er die Zweige des Baumes über die Grundstücksgrenze wachsen, dann kann er nicht unter Verweis darauf, dass der Baum (nunmehr) droht, durch das Abschneiden der Zweige an der Grundstücksgrenze seine Standfestigkeit zu verlieren oder abzusterben, von seinem Nachbarn verlangen, das Abschneiden zu unterlassen und die Beeinträchtigung seines Grundstücks hinzunehmen. Das Selbsthilferecht kann bei Vorliegen von Beeinträchtigungen des Nachbargrundstücks lediglich durch naturschutzrechtliche Regelungen, etwa durch Baumschutzsatzungen oder -verordnungen, eingeschränkt sein.
Ob dies hier der Fall ist, wird das Berufungsgericht neben der Frage nach der Beeinträchtigung noch zu prüfen haben.