AG Kassel 27.8.2020 Az. 800 C 2563/20

Die Antragstellerin begehrt die Aussetzung der Vollziehung eines von ihr in einem gesonderten Verfahren angefochtenen Beschlusses der Eigentümerversammlung der aus 11 Eigentümern bestehenden Wohnungseigentumsgemeinschaft. Mit Schreiben vom 06.07.2020 lud die Hausverwaltung zur Eigentümerversammlung am 22.07.2020 und formulierte darin:

„Aufgrund der Größe der Sitzungsräume muss die Anzahl der anwesenden Eigentümer bei dieser Versammlung beschränkt werden (10 Personen inkl. Verwalter). Erteilen Sie deshalb möglichst dem Verwaltungsbeirat oder der Verwaltung die Vollmacht für die Teilnahme an der Versammlung. […] Der Verwalter behält sich vor, die Versammlung nicht durchzuführen, sofern die Höchstzahl der Anwesenden überschritten wird und keine einvernehmliche Regelung am Versammlungstag dazu getroffen werden kann.”

In der Versammlung erfolgte eine Beschlussfassung über den Anstrich der Gebäudefassade inklusive Algenschutz. Diese Beschlussfassung wurde von einer Eigentümerin angefochten (Hauptsache-
verfahren) da ihrer Meinung nach die konkret beschlossene Maßnahme unter den Gesichtspunkten des Gesundheitsschutzes und des Umweltschutzes untauglich ist.

Bevor eine gerichtliche Entscheidung getroffen war, beantragte die Eigentümerin eine einstweilige Verfügung zur Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses bis zur Entscheidung in der Hauptsache, da die Hausverwaltung ankündigte, ab September 2020 den Beschluss umsetzen zu lassen. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hatte Erfolg, die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Aufschub der Vollziehung des angefochtenen Beschlusses:

Zwar überwiegt trotz des eingeleiteten Beschlussanfechtungsverfahrens regelmäßig das Vollziehungsinteresse bezüglich des angefochtenen Beschlusses das Aussetzungsinteresse des jeweiligen Anfechtungsklägers. Im vorliegenden Fall kommt es jedoch darauf nicht an, weil der angegriffene Beschluss nicht lediglich anfechtbar, sondern nichtig im Sinne von § 23 Abs. 4 S. 1 WEG ist.
Die Nichtigkeit eines Beschlusses einer Wohnungseigentümergemeinschaft ist in einem gerichtlichen Verfahren jederzeit von Amts wegen zu berücksichtigen auch dann, wenn sich eine Partei nicht explizit darauf beruft, da die Nichtigkeit für und gegen alle Beteiligten auch ohne ausdrückliche Geltendmachung wirkt. Die Nichtigkeit eines Beschlusses liegt dann vor, wenn der Beschluss seinem Inhalt nach gegen zwingende Vorschriften oder die guten Sitten verstößt, zu unbestimmt ist, es an der Beschlusskompetenz der Wohnungseigentümer fehlt, ein Verstoß gegen Grundsätze des Wohnungseigentumsrechts oder in den Kernbereich des Wohnungseigentums eingegriffen wird. Letzteres ist hier der Fall.

Ein Eingriff in den Kernbereich des Wohnungseigentums liegt insbesondere dann vor, wenn die Mitwirkungsrechte eines Wohnungseigentümers ganz oder teilweise diesem entzogen werden, obwohl es sich um unentziehbare Rechte handelt. Insbesondere dürfen Teilnahmerecht und Stimmrecht eines Wohnungseigentümers allenfalls ausnahmsweise eingeschränkt werden. Dies ist hier ohne Vorliegen eines hinreichenden Ausnahmefalles geschehen, weil die Einladung vom 06.07.2020 impliziert, dass mindestens zwei Wohnungseigentümer von der Teilnahme an der Eigentümerversammlung ausgeschlossen werden. Denn eine Vollversammlung aller Wohnungseigentümer der Eigentümergemeinschaft A würde die Anwesenheit von 12 Personen erfordern, zählt man den Verwalter hinzu, der im vorliegenden Fall nicht mit einem der Wohnungseigentümer personenidentisch ist.
Dies bedeutet, dass zwingend zwei Personen nicht persönlich teilnehmen dürfen, sondern von der Ausschließung bedroht sind. Auch der Hinweis, dass eine Vertretung durch einen Bevollmächtigten, etwa Verwaltungsbeirat oder Verwalter, grundsätzlich möglich ist, ändert daran nichts. Denn auch zur Erteilung einer entsprechenden Vollmacht kann ein Wohnungseigentümer nicht gezwungen werden, da das Recht zur persönlichen Teilnahme eben zum Kernbereich zählt. Dies ist bereits deswegen der Fall, weil es sich bei der Wohnung um eines der elementaren Bedürfnisse eines Menschen handelt und/oder auch im Falle der Vermietung einer Eigentumswohnung ein erhebliches regelmäßig ein herausragendes wirtschaftliches Interesse des Eigentümers betroffen ist.

Auch der weitere Hinweis, dass der Verwalter im Falle, dass sich die anwesenden Wohnungseigentümer einvernehmlich auf eine anderweitige Regelung der Teilnehmerzahl verständigen, die Versammlung gleichwohl durchführen kann, vermag daran nichts zu ändern. Entscheidend kommt es darauf an, ob im Vorfeld der Versammlung durch die Einladung ein Druck erzeugt wird, von der Teilnahme an der Versammlung Abstand zu nehmen. Dies kann dazu führen, dass ein Wohnungseigentümer allein aufgrund der Formulierung der Einladung trotz der zitierten Öffnungsklauseln von vornherein von seinem Erscheinen absieht, um nicht einer ansonsten drohenden Absage der Eigentümerversammlung oder gar einem Zwangsausschluss unterworfen zu werden. Denn die Formulierung der Einladung ist geeignet, einen psychischen Zwang bei den einzelnen Wohnungseigentümern auszulösen, der sie von der Wahrnehmung ihrer Kernrechte abhält.

Auch die derzeit herrschende Corona-Pandemie rechtfertigt ein derartiges Vorgehen nicht, insbesondere wären zum Einladungszeitpunkt in Hessen Zusammenkünfte von bis zu 250 Personen zulässig gewesen, wenn geeignete Schutzmaßnahmen vorhanden sind. Sofern tatsächlich eine Beschränkung der Personenzahl vorgeschrieben gewesen wäre, hätte es einer besonderen Rechtfertigung für eine Versammlung unter Ausschluss von Eigentümern geben müssen. Dies war hier aber nicht der Fall, da ein Zuwarten bis zu einer etwaigen Entspannung der Corona-Pandemie auf Grund des Zustandes der Fassade zumutbar war.

Zusammenfassung:
Die Corona-Pandemie rechtfertigt regelmäßig keine Beschränkung der Personenzahl auf einer Eigentümerversammlung auf einen Wert unterhalb der teilnahmeberechtigten Eigentümer inkl. Verwalter. Spricht die Einladung zu einer Versammlung ohne ausreichende Rechtfertigung eine solche Beschränkung aus, so sind die auf der Versammlung getroffenen Beschlüsse wegen Eingriffs in den Kernbereich des Wohnungseigentums nichtig. Vorrangig ist ein Raum zu organisieren, in dem die Vorgaben der landesrechtlichen Corona-Schutzverordnungen eingehalten werden können.